Neue Erkenntnisse bei der Freisetzung von Elektronen
Trifft ionisierende Strahlung auf Materie, dann werden stets grosse Mengen langsamer Elektronen freigesetzt. Bisher nahm man an, dass diese Elektronen durch die energiereiche Strahlung aus der Elektronenhülle der getroffenen Teilchen – etwa aus einem Wasser-Molekül – herausgeschlagen werden. In ihrem Experiment haben die Berliner Wissenschaftler so genannte Wasser-Cluster, winzige Eisklümpchen, mit weicher Röntgenstrahlung aus dem Berliner Speicherring für Synchrotronstrahlung BESSY beschossen.
Dabei haben sie die bekannten Elektronen wie erwartet nachgewiesen. Daneben zeigte sich jedoch ein neuer Prozess: Zwei benachbarte Wassermoleküle arbeiten zusammen, um die Ausbeute an langsamen Elektronen zu vergrßern.
Zunächst wird die Energie der Röntgenstrahlung im Material aufgenommen: Ein Wassermolekül wird ionisiert und gibt ein Elektron frei. Dieses Elektron nimmt aber nicht die gesamte Energie des aufgetroffenen Röntgenphotons mit. Ein Rest bleibt in dem zurückbleibenden Ion gespeichert und sorgt dafür, dass wenige Femtosekunden später ein weiteres Elektron freigesetzt wird. (Eine Femtosekunde ist ein Millionstel einer Milliardstel Sekunde. Einige Femtosekunden brauchen zum Beispiel die Elektronen bei einem chemischen Prozess, um sich anders anzuordnen.) Dieser Prozess ist als Autoionisation bekannt – das Molekül ionisiert sich selbst.
Die Max-Planck-Forscher haben nun entdeckt, dass zwei benachbarte Wassermoleküle bei einem solchen Autoionisationsprozess zusammenarbeiten können. Gemeinsam erreichen sie einen Zustand, der für beide energetisch günstiger ist, wenn sie jeweils beide ein Elektron freisetzen. Dazu gibt das zuerst erzeugte Molekül-Ion seine überschüssige Energie an ein zweites Molekül ab, das daraufhin ein eigenes Elektron aussendet. Dieser Energietransfer funktioniert sogar durch den leeren Raum, eine chemische Bindung der beiden Moleküle ist nicht erforderlich.
Die Entdeckung kommt nicht ganz überraschend. Schon vor mehr als zehn Jahren hatten Theoretiker der Universität Heidelberg um Lorenz Cederbaum diesen „Intermolekularen Coulomb-Zerfall“ vorhergesagt. Er wurde in gefrorenen Edelgasen schon beobachtet. Um ihn jetzt auch in Wasser zweifelsfrei aufzuspüren, war eine ausgefeilte Experimentiertechnik erforderlich, bei der beide erzeugten Elektronen als Paar nachgewiesen werden.
Der Nachweis der IPP-Forscher, dass der Prozess in Wasser – also wohl auch in organischem Gewebe – möglich ist, könnte dazu beitragen, das Entstehen von Strahlenschäden aufzuklären. „In einem Organismus freigesetzte langsame Elektronen können für biologisch relevante Moleküle fatale Folgen haben,“ erklärt Uwe Hergenhahn von der Berliner IPP-Arbeitsgruppe am BESSY: „Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass die Anlagerung solcher Elektronen organische Moleküle wie eine Schere in zwei Stücke zerteilen kann. Noch weiss man sehr wenig darüber, wie dieser und andere Prozesse auf molekularer Ebene die Entstehung von Strahlenschäden bewirken. Es ist jedoch klar, dass hier ein wichtiges Forschungsfeld liegt.“ Aber auch für andere Vorgänge in der Chemie sind intermolekulare Coulomb-Zerfälle von Bedeutung: Die paarweise Zusammenarbeit von einem Wasser-Molekül mit einer im Wasser gelösten Substanz könnte aufklären, wie Lösungsvorgänge auf molekularer Ebene funktionieren.
Die Ergebnisse der IPP-Forscher sind kürzlich in dem renommierten Fachblatt „Nature Physics“ erschienen***. Zugleich ist dort auch ein komplementäres Experiment dokumentiert, bei dem eine Arbeitsgruppe der Universität Frankfurt intermolekulare Coulomb-Zerfälle in den kleinst-möglichen Wassern-Clustern, bestehend aus nur aus zwei Wasser-Molekülen, sehen konnte.
Quelle: Max-Planck-Institut für Plasmaphysik