Der Kartoffel auf die Sprünge geholfen – natürliche Mutationsrate beschleunigt
Von aussen sieht die neue Kartoffel aus wie jede andere – die Schale ist hellbraun, das Fleisch saftig und gelb. Doch in ihrem Inneren ist sie anders: Ihre Zellen produzieren reines Amylopektin, eine Stärke, die in der Papier-, Textil- und Nahrungsindustrie benötigt wird. Die neue Kartoffel, die jetzt zum ersten Mal geerntet und verarbeitet wird, haben Fraunhofer-Forscher mit Hilfe eines neuen, besonders schnellen Züchtungsverfahrens entwickelt.
Der Herbst 2009 war für das Unternehmen Emsland Group ein besonderer Herbst: Zum ersten Mal in der Geschichte des grßten deutschen Kartoffelstärke-Herstellers wurden Tilling-Kartoffeln verarbeitet, die ausschliesslich die Stärke Amylopektin enthalten. Aus dieser lassen sich nicht nur Speisestärken zum Binden von Suppen und Desserts gewinnen, sondern auch Kleister und glättende Beschichtungen für die Papier- und Garnherstellung. „Die Kartoffel ist das erste durch Tilling gewonnene Produkt in Deutschland, das Marktreife erlangt hat“, erläutert Prof. Dirk Prüfer vom Fraunhofer-Institut für Molekulare und Angewandte Ökologie IME.
Tilling – die Abkürzung steht für „Targeting Induced Local Lesions In Genoms“ – ist ein Züchtungsverfahren, mit dem die Forscher der Evolution auf die Sprünge helfen. In der Natur geht die Evolution langsam: Durch Mutation und Selektion verändern sich Tier- und Pflanzenarten. Im Laufe der Generationen entwickeln sich diejenigen weiter, die sich auf Grund ihrer genetischen Ausstattung am besten an die gerade herrschenden Umweltbedingungen anpassen konnten. Andere Arten sterben aus. Der Mensch nutzt den Evolutionsprozess seit Jahrtausenden für seine Zwecke, indem er besonders ertragreiche Sorten weitervermehrt. Moderne Züchtungsverfahren funktionieren im Prinzip genauso, allerdings wird die natürliche Mutationsrate beschleunigt: „Mit Hilfe von Chemikalien lässt sich schnell eine grosse Anzahl von Mutanten gewinnen“, sagt Jost Muth vom IME, der an der Entwicklung der neuen Stärke-Kartoffel beteiligt war. „Wir arbeiten hier mit natürlichen Prinzipien: In der Natur löst das Sonnenlicht Veränderungen im Erbgut aus. Mit Chemie erreichen wir dasselbe, nur schneller.“
Bisher war Mutationszüchtung ein mühsamer Prozess: „Die Züchter mussten das mutierte Saatgut auf dem Feld ausbringen. Erst Monate später, am Ende der Vegetationsperiode, konnten sie sehen, ob eine der genetischen Veränderungen den gewünschten Erfolg hatte. Die meisten der erzeugten Mutationen konnten dabei gar nicht entdeckt werden, weil das Merkmal oft nicht dominant ist“, so Prüfer. Seinem Team ist es gelungen, die Umsetzung zu beschleunigen. Im Labor am IME werden die mutierten Samen zum Keimen gebracht. Sobald die ersten Blätter erscheinen, ist Erntezeit: Die Forscher nehmen eine Blattprobe, brechen die Zellstrukturen auf, isolieren das Genom und analysieren es. Innerhalb weniger Wochen lässt sich auf diese Weise herausfinden, ob eine Mutation die gewünschten Eigenschaften hat.
In einem durch die Fachagentur „Nachwachsende Rohstoffe“ geförderten Projekt haben die Forscher am IME in Zusammenarbeit mit den Firmen Bioplant und Emslandstärke den Super-Kartoffelkeim aufgespürt: 2748 Keimlinge mussten untersucht werden, bis derjenige identifiziert war, der ausschliesslich die Stärkekomponente Amylopektin produziert. Aus diesem Keim gewannen die Experten die erste Generation von Super-Kartoffeln. In ihrem Erbgut sind nur die Gene aktiv, die die Bildung von Amylopektin auslösen, während die Amylose-Gene ausgeschaltet sind. „Bisher enthielten Kartoffeln immer beide Stärkearten. Die Industrie musste das Amylopektin von der Amylose abtrennen – ein energie- und kostenintensives Verfahren“, erklärt Prüfer. Da Tilling-Kartoffeln nur Amylopektin enthalten, entfällt dieser Prozessschritt. Allein in Deutschland benötigt die Papier- und Klebstoffindustrie jährlich 500 000 Tonnen hochreines Amylopektin. Dazu kommen der Bedarf der Lebensmittelbranche und der Textilindustrie – letztere nutzt die Stärke, um Garne vor dem Weben zu glätten.
100 Tonnen der neuen Super-Kartoffeln wurden in diesem Herbst geerntet. „Sie lassen sich wie gewohnt in den Fertigungslinien verarbeiten“, berichtet Muth. „Besondere Massnahmen sind nicht notwendig, weil die Tilling-Kartoffeln ganz normale Züchtungen sind, die kein gentechnisch verändertes Material enthalten.“ Das Beispiel zeigt, dass sich mit klassischer oder moderner Turbo-Züchtung viel erreichen lässt. Die Voraussetzung für jede Art der Züchtung ist jedoch, dass das Gen, das zur Ausprägung der gewünschten Eigenschaft führt, in der Pflanze vorhanden und bekannt ist – wie das Gen für die Produktion von Amylose in Kartoffeln. „Wenn wir fremde Gene in die Pflanze einschleusen wollen, um beispielsweise Tabakpflanzen dazu zu bekommen, pharmakologische Wirkstoffe zu produzieren, ist es unumgänglich und sinnvoll gentechnische Verfahren zu benutzen“, resümiert Prüfer: „Grundsätzlich gilt beim Umgang mit Genen: Soviel Veränderung wie nötig aber so wenig wie möglich.“
Quelle: Fraunhofer-Gesellschaft