KI-Methoden entschlüsseln mögliche Vorboten größerer Beben durch Gezeiten-Effekte im Marmarameer
Die Änderung des Meeresspiegels, etwa im Rahmen von Gezeiten, kann Erdbeben auslösen. Das zeigt ein Team um Patrizia Martínez-Garzón vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ in einer aktuellen Studie im Fachmagazin Geophysical Research Letters. Hierfür erhoben und analysierten sie seismische Daten aus dem Marmarameer südlich von Istanbul, wo ein großes Erdbeben überfällig ist. Die seismischen Effekte, die durch die natürlichen Schwankungen des Meeresspiegels ausgelöst werden, sind so gering, dass sie nur durch den Einsatz neuer Verfahren der Künstlichen Intelligenz und der Bildverarbeitung in den Daten aufgespürt werden konnten. Dass sie bei so schwachen auslösenden Kräften überhaupt auftreten, könnte darauf hindeuten, dass die Verwerfungen in dem untersuchten Gebiet kurz vor dem Versagen stehen und dann weitere Erdbeben ausgelöst werden könnten. Damit wären derartige Analysen ein wichtiger Schritt für eine bessere Gefährdungsvorhersage. Bereits im Jahr 2013 haben wir auf die Erdbeben- Lücke vor den Toren von Istanbul in der Türkei hingewiesen.
Hintergrund: Rolle von Gezeiten für die Erdbebenvorhersage
Die Gefahr von Erdbeben insbesondere in dicht besiedelten Regionen wie dem Großraum Istanbul besser vorhersagen zu können, ist immer noch eine Herausforderung für die Wissenschaft. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung zu verstehen, wie viel Spannung nötig ist, um eine Verwerfung, also eine bestehende Bruchstelle in der Erdkruste, zum Versagen zu bringen und damit ein Erdbeben auszulösen. Ein natürlicher Prüfstein dafür, wie die Erde auf eine Spannungstörung reagiert, sind gut bekannte quasi-periodische Phänomene, zum Beispiel die Gezeitenbewegungen der Ozeane oder saisonale Effekte wie die zusätzlichen Wassermassen aufgrund von Niederschlägen.
Es wird bereits seit Jahrzehnten untersucht, ob solche kleinen, aber vorhersehbaren Spannungsänderungen ausreichen, um regelmäßige oder niederfrequente Erdbeben auszulösen. Dazu wird versucht, sie in sogenannten Seismizitäts-Katalogen aufzuspüren. Das sind Zusammenstellungen von Ort, Entstehungszeit, Ausmaß und anderen wichtigen Daten zu seismischen Ereignissen in einer Region, anhand derer zum Beispiel Erdbeben identifiziert werden können. Allerdings sind die Effekte der quasi-periodischen natürlichen Phänomene in der Regel sehr klein und mit Hilfe von Seismizitätskatalogen, die mit herkömmlichen Techniken zur Datenauswertung erstellt wurden, nur schwer oder gar nicht zu erkennen.
Neue Ergebnisse Dank neuartiger KI-Methoden zur Datenauswertung
Hochauflösende Kataloge, die mit neuartigen, auf Künstlicher Intelligenz (KI) basierenden Techniken erstellt und analysiert werden, können eine neue Möglichkeit bieten, nach dieser Art von Erdbebenauslösung zu suchen. KI-Methoden sind in der Lage, viel kleinere in den Daten verborgene Erdbeben zu identifizieren. Eine zweite Methode hierfür ist das sogenannte „Template Matching“ aus der Bildverarbeitung: Um in den gemessenen Daten Erdbeben zu identifizieren, wird in deren Kurvenverlauf nach Übereinstimmung mit den typischen Kurven für Erdbeben gesucht. Hochauflösende Kataloge enthalten in der Regel etwa zehnmal mehr Erdbeben als herkömmliche.
Das machte sich auch ein Team um Patricia Martínez-Garzón vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ in Potsdam zunutze. Die Geophysikerin leitet eine Helmholtz Young Investigators Forschungsgruppe in der Sektion 4.2 „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“. Für ihre jetzt im Fachmagazin „Geophysical Research Letters“ erschienene Studie hat sie mit Gregory C. Beroza, Professor an der Standford University (USA) und ein weltweit führender Experte für KI-gestützte Techniken in der Seismologie, sowie mit Gian M. Bocchini, PostDoc an der Ruhr-Universität Bochum, und mit Marco Bohnhoff, Leiter der Sektion 4.2 am GFZ und Professor an der Freien Universität Berlin, zusammengearbeitet.
Die Forschenden haben hochauflösende Seismizitätskataloge für eine hydrothermale Region südlich von Istanbul im östlichen Marmarameer erstellt. Sie umfassen Ereignisse einer Stärke bis zu MW 4,5 über einen Zeitraum von sechs Monaten, von November 2018 bis Mai 2019. Darin dokumentieren sie zum ersten Mal in dieser Region einen starken Einfluss der Wasserstandsänderungen des Marmarameeres auf die lokale Seismizität.
Seismische Situation und Erdbebengefahr rund um Istanbul
Die Armutlu-Halbinsel ist ein seismisch aktives Gebiet direkt südlich der dicht besiedelten Megastadt Istanbul mit mehr als 16 Millionen Einwohnern. Die Region ist Teil des aktiven nordanatolischen Verwerfungssystems, einer großen tektonischen Plattengrenze, die dafür bekannt ist, dass sie zerstörerische Erdbeben hervorruft, die viele Opfer fordern können. Das letzte große Erdbeben dieser Art ereignete sich 1999 in der Nähe von Izmit und forderte fast 20.000 Todesopfer. Der Hauptarm der Verwerfung verläuft direkt zwischen Istanbul und Armutlu und wird als „seismische Lücke“ bezeichnet: Hier ist ein großes Erdbeben überfällig, was man aus der Abfolge vorheriger Ereignisse schließen kann.
Datenerhebung und Auswertung
In dieser Region betreibt das GFZ in Zusammenarbeit mit der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD und der US-amerikanischen Institution EARTHSCOPE (früher UNAVCO) das Plattenrand-Observatorium GONAF, das die Messdaten für die vorliegende Studie lieferte: Hier sind sieben 300 Meter tiefe Bohrlöcher mit Seismometern und vier 100 Meter tiefe mit Dehnungsmessern ausgestattet.
Für die Erstellung der hochauflösenden Kataloge wurden die seismischen Aufzeichnungen des GONAF mit KI-Techniken der nächsten Generation analysiert, dazu gehören bestimmte Verfahren des Deep Learning, das auf künstlichen neuronalen Netzen basiert. Das wurde unter anderem inspiriert durch den Aufenthalt von Gregory C. Beroza am GFZ im Rahmen seines Humboldt-Preises 2021 und hat zu einer Fülle neuer Ergebnisse geführt. Die ersten wurden nun veröffentlicht.
Resultate: Meeresspiegelanstieg durch Gezeiten fördert Seismizität
„Mit den hochauflösenden Seismizitätskatalogen dokumentieren wir zum ersten Mal in dieser hydrothermalen Region im östlichen Marmarameer einen starken Einfluss der gezeitenbedingten Wasserstandsänderungen auf die lokale Seismizität“, sagt Patricia Martínez-Garzón. Eine solche Beziehung ist normalerweise schwach – der Meeresspiegel variiert hier nur um 0,8 Meter – und schwer zu erkennen, da es weltweit nur wenige Referenz-Beobachtungen gibt. „Unsere beiden hochauflösenden Kataloge zeigen, dass die lokalen Seismizitätsraten in den Zeiträumen kurz nach den Minima des Meeresspiegels, wenn der Meeresspiegel wieder steigt, deutlich höher sind“, erläutert Martínez-Garzón. In den vergleichbaren herkömmlichen Katalogen waren diese Effekte nicht zu erkennen.
Darüber hinaus können die Ergebnisse der Analysen helfen abzuschätzen, welche Spannungsänderungen ausreichen, um die lokalen Verwerfungen zu aktivieren und Beben auszulösen. „Wenn bereits solch geringe Spannungsschwankungen aufgrund von Veränderungen des Meeresspiegels ausreichen, um Seismizität auszulösen, könnte dies darauf hindeuten, dass die lokalen Verwerfungen in Armutlu kurz vor dem Versagen stehen“, resümiert Martínez-Garzón.
Ausblick
Ob dieser Effekt über einen längeren Zeitraum anhält oder ob es sich um einen vorübergehenden Effekt handelt, muss im weiteren Verlauf untersucht werden. Gregory C. Beroza, Mitautor der Studie, erklärt: „Wir müssen den verbesserten Katalog zeitlich erweitern – sowohl in Richtung früher Zeit als auch in Richtung Gegenwart –, um festzustellen, ob diese Korrelation dauerhaft ist oder sich mit der Zeit ändert. Daraus ließen sich möglicherweise Trends hinsichtlich eines möglichen Versagens der Verwerfung aufzeigen.“
Die weitere Erforschung dieser Themen ist Teil von Martínez-Garzóns kürzlich bewilligtem ERC Starting Grant QUAKEHUNTER. Darin will sie insbesondere untersuchen, ob Seismizität durch Gezeiteneffekte tatsächlich leichter ausgelöst werden kann, wenn sich die Verwerfung dem Ende ihres seismischen Zyklus nähert.
Quelle: Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ