Wie aggressive Zellen in das Gehirn eindringen
Live-Beobachtungen geben neue Einblicke in Vorgänge der Multiplen Sklerose
Bei Krankheiten wie der Multiplen Sklerose (auch Encephalomyelitis disseminata oder kurz ED genannt) dringen Zellen des Immunsystems in das Hirngewebe ein, wo sie grossen Schaden anrichten. Lange Zeit war es ein Rätsel, wie diese Zellen den Blutstrom verlassen können, denn Blut- und Nervensystem sind normalerweise durch spezielle Blutgefässwände voneinander getrennt. Dass die Immunzellen dennoch zu den Nervenzellen vordringen können, war bisher nur durch Gewebeschnitte belegt. Nun konnte ein Team um Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried die Bewegungen dieser Zellen erstmals „live“ unter dem Mikroskop beobachten. Dabei kamen ganz neue Verhaltensweisen der Immunzellen ans Licht. Die Erkenntnisse tragen entscheidend zu unserem Verständnis der komplexen Krankheit bei.
Abb. Die Aufnahme zeigt die Bewegungen der kriechenden T-Zellen (grün) innerhalb der Blutgefässe (rot) über einen Zeitraum von zirka 20 Minuten. Deutlich zu erkennen ist, dass einige T-Zellen die Blutgefässe verlassen und ihre grüne Spur durch das umgebende Hirngewebe ziehen.
Das Gehirn und das Rückenmark überwachen und steuern die Funktionen aller Körperteile und regeln die Bewegungen, die Sinne und das Verhalten des Organismus. Der Schutz des Gehirns und des Rückenmarks hat daher oberste Priorität. Schädelknochen und Wirbelsäule halten mechanische Verletzungen und äussere Einflüsse fern. Gefahren von innen, zum Beispiel im Blut zirkulierende Krankheitserreger, werden durch hoch spezialisierte Blutgefässe abgewehrt. Die Wände dieser Gefässe bilden eine Grenzbarriere, die Zellen und viele kleinere Partikel nicht passieren können – die empfindlichen Nervenzellen sind geschützt.
Es gibt jedoch Ausnahmen. Bei Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose (MS) gelingt es aggressiven Zellen des Immunsystems die Barriere der Blutgefässe zu durchbrechen. Einmal in das Hirngewebe eingedrungen richten diese Zellen grossen Schaden an: Sie lösen Entzündungsreaktionen aus und greifen Nervenzellen an. Das Ergebnis sind vielfältige Beeinträchtigungen, unter denen alleine in Deutschland über 120 000 MS-Patienten leiden.
Identifizierung der Täter
Aufgrund der normalerweise sehr effektiven Trennung zwischen dem Zentralen Nervensystem, also dem Gehirn und Rückenmark, und dem Blutkreislauf, war es lange Zeit rätselhaft wie die Immunzellen die Blut-Hirn-Schranke durchbrechen können – eine wichtige Frage zur Entstehung der Multiplen Sklerose. Erst in den 80iger-Jahren des letzten Jahrhunderts konnten Wissenschaftler zeigen, dass unter bestimmten Bedingungen Immunzellen, sogenannte T-Zellen, Bestandteile des körpereigenen Hirngewebes erkennen und angreifen. Die Wanderung dieser Zellen von ihrem Entstehungsort bis hin zum Eindringen in das Hirngewebe und die resultierenden Schäden klärten Gewebeschnitte in den letzten Jahrzehnten immer weiter auf. Eine tatsächliche Beobachtung der Zellbewegungen blieb jedoch lange unmöglich.
Aggressive Zellen live beobachten
Diese Hürde nahmen nun Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie mit ihren Forscherkollegen. Sie markierten aggressive T-Zellen mit dem Grün Fluoreszierenden Protein (GFP) in Ratten, wodurch sie die Zellenbewegungen im lebenden Gewebe durch ein Zwei-Photonen-Mikroskop verfolgen konnten. Diese gezielte Beobachtung der Zellen im Verlauf der Krankheit bescherte den Wissenschaftlern eine ganze Reihe von neuen Einblicken in das Verhalten dieser Zellen.
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die aggressiven T-Zellen die Grenzbarriere zwischen Blut und Nervengewebe in mehreren Schritten überwinden. Ausserhalb des Nervensystems bewegten sich die markierten Zellen wie erwartet: Die meisten Zellen liessen sich vom Blutstrom treiben. Nur vereinzelt blieben Zellen für kurze Zeit an den Gefässwänden haften, bevor sie in Richtung des Blutstroms weiterrollten oder wieder mitgerissen wurden. Erreichten die T-Zellen jedoch die Gefässe des Nervensystems, so verhielten sie sich völlig anders. Immer häufiger beobachteten die Wissenschaftler, wie sich die Zellen an den Gefässwänden festsetzten. „Richtig spannend wurde es dann, als wir sahen, dass die Zellen kriechen – das war ein bisher gänzlich unbekanntes Verhalten für T-Zellen“, berichtet Ingo Bartholomäus von seinen Beobachtungen. Kriechen beschreibt hier eine aktive Bewegung der Zellen, die vor allem gegen den Blutstrom verläuft. Die Forscher beobachteten, wie die T-Zellen für mehrere Minuten bis Stunden an den Gefässwänden entlangwanderten und oder ihre Kreise zogen. Am Ende dieser Suchbewegung wurden die Zellen entweder wieder vom Blutstrom mitgerissen oder sie zwängen sich durch die Gefässwand.
Folgenschwere Begegnungen
Hatten die Zellen die Barriere der Blut-Hirn-Schranke erfolgreich durchbrochen, setzten sie ihre Suche im Umkreis der Blutgefässe fort. So war es nur eine Frage der Zeit, bis die T-Zellen auf eine der sogenannten Fresszellen stiessen. Fresszellen sitzen an den Aussenwänden der Blutgefässe und auf der Oberfläche des Nervengewebes, wo sie ihre Umgebung mit fingerartigen Zellausstülpungen systematisch abtasten. Traf eine der beweglichen T-Zellen auf solch eine Fresszelle, so bildeten die beiden ein eng verbundenes Paar. Einige dieser Paare blieben für mehrere Minuten unzertrennlich.
Dass T-Zellen erst mit Fresszellen in Kontakt treten müssen, um ihre Immunfunktion auszuüben, ist seit längerem bekannt. Völlig neu ist jetzt, dass Forscher erstmals solche Interaktionen direkt an der Blut-Hirn-Schranke beobachten. Und tatsächlich begannen die T-Zellen erst nach dem Kontakt mit den Fresszellen entzündungsfördernde Botenstoffe auszuschütten und so den Angriff auf das Nervensystem einzuleiten. Als eine der Folgen durchquerten immer mehr T-Zellen die Wände der Blutgefässe. „Anscheinend ist die Aktivierung der T-Zellen an der Grenze zum Nervengewebe somit ein entscheidendes Signal für die Invasion der Immunzellen“, folgert Alexander Flügel, der Leiter der Studie.
Vorgänge verstehen
Und noch etwas fanden die Wissenschaftler durch die „Live-Beobachtungen“ heraus: Gaben sie spezielle Antikörper, die bereits in der MS-Therapie eingesetzt werden, ins Blut, so verschwanden die kriechenden Zellen. „Bisher wurde angenommen, dass diese Antikörper das Austreten der T-Zellen aus den Blutgefässen blockieren“, so Ingo Bartholomäus. „Unsere Beobachtungen zeigen nun, dass sie bereits das Kriechen verhindern – also einen Schritt früher eingreifen als bisher angenommen.“
Die Beobachtungen der Wissenschaftler ergeben nun ein viel detaillierteres Bild von den Bewegungen und dem Eindringen der Immunzellen in das Zentrale Nervensystem. Mit diesem Wissen lässt sich auch die ständige Immunüberwachung im gesunden Gewebe besser verstehen. Doch wie so oft werfen die Ergebnisse und das neue Wissen auch viele neue Fragen auf: Woran haften die Immunzellen auf den Gefässoberflächen und wie erkennen sie eine geeignete Stelle für den Wechsel zwischen Blut- und Nervensystem? Was leitet die Zellen nach dem Durchbrechen der Blut-Hirn-Schranke? Dies sind einige der Fragen, denen die Wissenschaftler als nächstes auf den Grund gehen wollen. Das langfristige Ziel ist es, neue Therapien und Medikamente für Krankheiten wie der Multiplen Sklerose zu entwickeln.
Quelle: Max-Planck-Institut für Neurobiologie
Bild: Max-Planck-Institut für Neurobiologie / Bartholomäus