Wahrnehmung: Augen schaun voraus, Gehirn denkt nach
Zügige Augenbewegungen erfolgen schneller als die Änderungen der Hirnaktivität, durch die sie repräsentiert werden. Mit diesem überraschenden Befund erklären Neurowissenschaftler aus Marburg, Bochum und Newark in den USA bestimmte Wahrnehmungsfehler. Dem Team ist es erstmals gelungen, den Zeitverlauf von Nervensignalen zu messen, die dem Gehirn die Eigenbewegung der Augen rückmelden. Die Forscher um Professor Dr. Frank Bremmer von der Philipps-Universität veröffentlichen ihre Ergebnisse in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Current Biology vom 7. Februar 2012.
Beim Lesen der vorliegenden Nachricht bewegen sich die Augen ruckartig von einem Punkt zum anderen; Sakkaden heissen diese Augenbewegungen im Jargon der Fachwissenschaftler. Das Bild des ruhenden Textes jagt hierbei mit hoher Geschwindigkeit fast 1.000 ° pro Sekunde über die Netzhaut. Trotzdem nehmen wir unsere Umwelt als stabil und ruhend war fast immer und fast vollständig. Unter bestimmten Bedingungen kommt es jedoch zu so genannten Wahrnehmungsfehlern: unmittelbar um den Zeitraum einer Sakkade herum werden Reize, die kurzzeitig präsentiert werden, an einem falschen Raumpunkt wahrgenommen. Die Raumkodierung im Gehirn ist also kurzzeitig gestört.
Visuelle Information wird von der Netzhaut aufgenommen, die sich mit jeder Sakkade bewegt , führt Bremmer aus. Man geht davon aus, dass die Netzhautsignale mit der Information kombiniert werden, in welche Richtung das Auge blickt, um die Position von Objekten im Raum zu kodieren. Bislang war bereits bekannt, dass es solche Blickrichtungssignale gibt. In ihrer Studie haben die Wissenschaftler nun erstmals den Zeitverlauf des Signals messen können.
Mittels neurophysiologischer Experimente am Tiermodell konnten sie nachweisen, dass sich die Nervenzellaktivität in bestimmten Regionen des Gehirns und somit auch die Kodierung der Blickrichtung systematisch ändert, und zwar bereits bevor die Augenbewegung beginnt. Überraschend war, dass die Modulation der neuronalen Aktivität langsamer vonstatten geht als die Bewegung der Augen. Eine Modellrechnung zeigte, dass dies zu räumlichen Wahrnehmungsfehlern führt. Die gefundene Modulation entspricht zeitlich genau derjenigen, die zuvor in psychophysischen Experimenten am Menschen beschrieben worden war , erklärt Bremmer. Die Wissenschaftler konnten somit erstmals das neuronale Korrelat der zuvor erhobenen Verhaltensdaten nachweisen.
Quelle: Philipps-Universität Marburg