Fukushima 1: Verzweifelter Kampf am Limit gegen den Super-Gau
Tokyo (Japan), 18.03.2011 Die Japanische Atomaufsichtsbehörde hat am Freitag die Unfälle an den Reaktoren 1, 2 und 3 in die dritthöchste Stufe (INES 5=Unfall mit grossflächigen Auswirkungen) von 7 eingeordnet, das Ereignis am Reaktor 4 in die Stufe 3 (Ernster Störfall). Zuvor hatten die französische Atomaufsichtsehörde und die Vereinigten Staaten den Störfall als INES-6 (Schwerer Unfall) eingestuft. Dies ist die Grenze, in der ein Atomunfall gerade noch als Auslegungsstörfall anerkannt ist, ab sieben sei er nicht mehr beherrschbar .
Die Angestellten arbeiten als eine Art Himmelfahrtskommando am Limit, um eine weitreichende Verseuchung zu verhindern. Das Kraftwerk an sich gilt als aufgegeben, insbesondere die Ruinen der Reaktoren 1 und 2. Der Anblick ist schockierend, es bietet sich ein Bild der Verwüstung. Der Einsatz der Arbeiter wird in den Medien zunehmend kritisiert, die Spätfolgen einer aus der Verstrahlung erwachsenden Strahlenkrankheit (welche ab einem Sievert tödlich enden kann) können Schilddrüsenerkrankungen und Lungenkrebs, bei Kindern auch Leukämie sein. Wo es bereits zu einer Verstrahlung gekommen ist, können die radioaktiven Stoffe in der Luft durch Niederschläge (hier: Schneefall) in den Boden verbracht werden und dort eine Verseuchung des Trinkwassers hervorrufen.
Zuvor waren die Aussenhüllen aller Siedewasserreaktoren 1 bis 3 zerstört worden und durch einen Brand in einem Zwischenlager für die verbrauchten Elemente in Reaktor 4 sei Strahlung direkt in die Atmosphäre gelangt. Es wurde ein Wert von 400 Millisievert gemeldet, die Brennelemente in Reaktor 2 (für den eine Kernschmelze befürchtet worden war) wurden freigelegt. Die Lage der Reaktoren 5 und 6 sei unkritisch. Die radioaktive Strahlung am Atomkraftwerk Fukushima hat in der Nacht zum Mittwoch eine neue Rekordmarke erreicht. Es sei vorübergehend der Wert von 1000 Millisievert (1 Tausendstel Sievert) gemessen worden, berichtete Regierungssprecher Yukio Edano, jedoch sei der Wert bei weiteren Messungen am Mittwochmorgen zwischen 600 und 800 Millisievert geringfügig gesunken.
Die Sicherheitszone wurde auf einen 30-Kilometer-Radius für das betroffene Kraftwerk ausgeweitet und der Luftraum gesperrt. Für eine noch weitergehende Evakuierung gebe es laut Betreiber keine Pläne. Die Anwohner innerhalb des Sicherheitsradius müssen in ihren Häusern bleiben und sie luftdicht abriegeln. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben ihren Bürgern die Einhaltung eines Sicherheitsradius von 80 Kilometern empfohlen und ihre Staatsbürger angewiesen, sich an das Annäherungsverbot zu halten. Die japanische Regierung indes bezeichnete am Donnerstag die bisherigen 20 Kilometer als ausreichend. Dennoch folgen seit Donnerstag auch andere Länder dem Beispiel der Vereinigten Staaten, was für eine deutliche Verschärfung der Lage spricht. Als Grund wird das völlige Trockenfallen des abgebrannten Reaktors 4 angegeben. Dem Kraftwerksbetreiber war in diesem Zusammenhang eine Verharmlosung der Zustandsbeschreibung vorgeworfen worden. Er hatte kürzlich verlautbart, dass der Wasserstand im Reaktor 4 noch nicht erschöpft sei. Diese Angaben hat die japanische Atomenergiebehörde NISA dementiert. Es wurde von der Atomaufsichtsbehörde eine Ausweitung auf einen 80-Kilometer-Radius um den Havaristen gefordert.
Nach einem (mehrmals gelöschten und immer wieder neu aufgeflammten) Brand in Reaktor 4 können die abgebrannten Kernelemente im sogenannten Abklingbecken nicht mehr geflutet werden, der Wasserstand gehe laut Betreiberfirma Tepco zurück und eine Kernschmelze sei wahrscheinlich. Laut einer Meldung der Nachrichtenagentur Kyodo, welche sich auf den Betreiber des AKW beruft, sind 70 Prozent der Brennstäbe in Reaktor 1 und zu etwa einem Drittel in Reaktor 2 erheblich beschädigt. Ob eine (Teil-)Kernschmelze stattgefunden habe, sei weiterhin unklar. Dieses Szenario wurde durch das mehrfache Wiederaufflammen des Brandherdes leider begünstigt. Der Brand war durch einen Mitarbeiter des Betreibers Tepco entdeckt worden, wie die Nachrichtenagentur Kyodo berichtet. Der Brand wurde durch die japanische Atomsicherheitsbehörde bestätigt. Inzwischen soll der Brand nach einer Meldung des Fernsehsenders NHK vom Mittwoch die Kontrolleinheit der Wasserkühlanlage in Mitleidenschaft gezogen haben. Der Fernsehsender NHK warnt vor steigender Radioaktivität, da die Brennelemente trockenfallen. Nach Informationen der japanischen Atombehörde und des Betreibers Tepco sind die Flammen nach [weiteren] 30 Minuten von selbst erloschen, der Brand sei vermutlich durch eine oder mehrere Wasserstoffexplosionen ausgelöst worden. Gleiches gilt für weitere Brände an den Reaktoren 3 und 4 von Mittwoch früh. Zuvor waren durch die Explosion des Reaktors 3 am Sonntag die Aussenwände beschädigt worden, inzwischen sei auch ein Dacheinsturz zu verzeichnen. Die Temperatur der abgebrannten Brennstäbe im Abklingbecken des Reaktors 4 hätten eine kritische Temperatur von 84 Grad Celsius erreicht, obwohl sie eigentlich laut IAEO-Angaben unter 25 Grad gehalten werden sollten.
Ein zwischenzeitlicher (inzwischen eingestellter) Einsatz von Löschhubschraubern verlief fruchtlos. Die Strahlenbelastung in der nuklearen Wolke beträgt derzeit 800 Millisievert pro Stunde und geht ersten Befürchtungen doch nicht Richtung Tokyo, da der Wind gedreht habe und nun aufs offene Meer hinausströmt. Die Arbeiten werden durch einen Wintereinbruch mit Schnee erschwert, unter der auch die Evakuierten und von den Folgen des Tsunami Geretteten leiden. Dies umso mehr, da die Stromzufuhr zeitweilig unterbrochen ist und damit auch die Möglichkeit zu heizen nicht mehr gegeben ist. Die Zahlen der Getöteten aus dem Dreifach-Unglück (Seebeben plus Tsunami plus Atomunfall) werden laut NHK von der Polize mit nunmehr annähernd 7.000 angegeben. Über 17.000 Menschen Menschen gelten noch als vermisst und werden unter den Trümmern der Verwüstungen durch den Tsunami vermutet. Die Suche durch die Behörden und internationale Hilfsorganisationen wurde eingestellt, da aufgrund der kritischen Lage der Eigenschutz der Menschen Vorrang haben müsse. Daher sei ein solcher Einsatz nicht mehr zumutbar und zudem die Wahrscheinlichkeit, jetzt noch Überlebende zu finden, ohne Einsatz schweren Geräts sehr gering sei.
Laut Ministerpräsident Naoto Kan hat man zwischenzeitlich das Kernkraftwerk Fukushima 1 evakuieren lassen. Diese Massnahme hob man gegen Mittwoch gegen 6:18 Uhr (MEZ) wieder auf. Zwei Maschinen der Air France seien auf dem Weg, bei den Evakuierungsmassnahmen in der Region zu helfen und um die französischen Landesbürger auszufliegen. Alternativ wurden sie von ihrer Regierung dazu aufgefordert, über Osaka nach Westjapan auszuweichen. Die französische Luftwaffe hat am Donnerstag 250 Franzosen nach Südkorea ausgeflogen, Russland evakuierte am selben Tag 50 Landseute ausser Landes. Auch ARD-Korrespondent Robert Hetkämper und sein Team sind inzwischen nach Osaka umgezogen, um die Berichterstattung von dort fortzusetzen.
Um die Schilddrüse der durch den Unfall betroffenen Anwohner im näheren Umfeld zu schützen, wurden Jodtabletten ausgegeben. Das in den Tabletten enthaltene unschädliche Jod blockiert die Rezeptoren in den Schilddrüsen und verhindert somit, dass radioaktive Isotope dieses Elements andocken und die Gesundheit langfristig schädigen, erklärte der Wissenschaftsmoderator Ranga Yogeshwar in einem ARD-Brennpunkt.
Die Strahlung in der Evakuierungszone um das AKW Fukushima hat sich am Donnerstag deutlich erhöht. In Tokyo liegt sie aber unverändert unter einem nicht gesundheitsschädlichen Wert, wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) mitteilte. Die Lage im Katastrophen-AKW spitzte sich demnach zunächst nicht weiter zu. Sie sei aber immer noch sehr ernst . In den Reaktoren 1 und 3 sind die Brennstäbe nach IAEO-Informationen nur halb mit Wasser bedeckt, im Reaktor 2 liegt der Wasserstand etwas über der Mitte der Brennstäbe. In einer vom TV-Sender NHK übertragenen Pressekonferenz der japanischen Atomsicherheitsbehörde Nisa berichtet ein Sprecher, man wolle am Freitag einerseits an den Blöcken 1 und 2 dank einer neu verlegten Stromleitung das Kühlsystem wieder in Gang setzen und andererseits gleichzeitig bei den Reaktoren 3 und 4 weiter mit Löschhubschraubern und Wasserwerfern kühlen. Die japanische Atombehörde korrigierte frühere Angaben. Demnach sollen nur die Reaktoren 3 und 4 bis Sonntag wieder mit Strom versorgt werden, nicht aber 5 und 6. Aus einem der beschädigten Reaktoren im japanischen Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi steigt weisser Rauch auf, so die japanische Atomaufsichtsbehörde. Es handele sich um Block 2, sagte ein Sprecher. Die Ursache sei nicht bekannt.
Regierungssprecher Yukio Edano kündigt an, die Messungen der Radioaktivität um das Kernkraftwerk Fukushima Eins soll ausgeweitet werden. Wir wollen die Beobachtungen in der Umgebung erhöhen für weitere Analysen . Edano nannte einen Radius von 30 Kilometern.
Das Auswärtige Amt hat eine Teilreisewarnung veröffentlicht, es riet zunächst von nicht erforderlichen Reisen ab, insbesondere in den Norden das Landes. Der Süden des Landes sei (noch) nicht betroffen. Inzwischen wurde die Reisewarnung verschärft und so empfiehlt das Auswärtige Amt, das Land über Osaka zu verlassen oder zumindest nach Westjapan auszuweichen. Einige andere Länder folgten diesem Beispiel. Die Botschaft von Österreich wurde von Tokyo nach Kyo-to und die deutsche nach Osaka verlegt. Wegen des Atomunfalls haben erste Fluggesellschaften ihren Betrieb nach Tokyo bis Sonntag eingestellt, dann erfolgt eine Neubewertung. Die Lufthansa machte den Anfang, Air China und EVA Airways folgten dem Beispiel. Die Maschinen würden nach Osaka oder Nagoja umgeleitet, weil sie weiter südlich lägen.
Unterdessen mussten Regierung und Kraftwerksbetreiber für ihre Informationspolitik massive Kritik einstecken. Daraufhin haben die Kritisierten reagiert und gehen nun in die Informationsoffensive. Laut einer Meldung des Fernsehsenders NHK könnten gemäss eigenen Aussagen Techniker des Betreibers Tepco neue Stromleitungen Donnerstagvormittag (Ortszeit) legen und so den Wasserstand der Abklingbecken wieder fluten, um ein Trockenfallen des Reaktors 4 zu verhindern. Behelfsweise wurden zunächst Wasserwerfer angefordert, um in gebührendem Abstand mit der Kühlung der Brennelemente zu beginnen. Sollte sich bis Freitag vor Ort nichts ändern, werde eine sehr bedeutende Verseuchung die Folge sein, erklärte der Direktor für Anlagensicherheit beim Institut für Strahlenschutz und Nuklearsicherheit (IRSN), Thierry Charles, in Paris. IAEO-Chef Yukiya Amano begab sich am Donnerstag ins Krisengebiet, um mittels Sondierungsgesprächen die Kommunikation zwischen seiner Behörde und den offiziellen Stellen zu verbessern.
In der Nacht zu Freitag wurde nach IAEO-Angaben gemeldet, dass es gelungen sei, eine Starkstromleitung zu errichten. Man werde abwarten, wenn der Vorgang der Besprengung durch die Wasserwerfer aufhört und dann versuchen, die neue Leitung in Betrieb zu nehmen. Ob die Wasserkühlung über die neue Stromleitung dann tatsächlich anspringt, bleibt abzuwarten.
Quelle: Wikinews
Artikel unterliegt der CC-BY-2.5-Lizenz