Zum Schutz vor Erdbeben: Forscher testen „Sehnen“ aus Stahl an virtuellen Modell eines antiken Tempels
Forscher der Kasseler Universität entwickeln ein Computermodell, dass das Verhalten antiker Bauten bei Erdbeben simuliert. Die Erkenntnisse sollen den Einsatz wirkungsvoller und denkmalschutzgerechter Techniken ermöglichen, die bei einem Beben die Bauten vor dem Einsturz bewahren – so könnten „Sehnen“ aus Stahl griechische Tempel stabilisieren.
Die Experten der Kasseler Uni verknüpfen das virtuelle Modell eines antiken Tempels mit Tests am Nachbau einer Säule. Mit dieser Kombination aus Simulation und realen Messungen „sind wir Vorreiter“, sagt Prof. Dr.-Ing. Uwe Dorka, Leiter des Fachgebiets Stahl- und Verbundbau am Kasseler Institut für konstruktiven Ingenieurbau.
Bauwerke vor den Folgen von Erdbeben zu schützen – egal ob es sich um historische oder moderne Gebäude oder Brücken handelt – ist ein Forschungsschwerpunkt von Dorka. Das unter seiner Leitung stehende DFG-Projekt, das auf drei Jahre angelegt ist, soll Forschungsergebnisse für die Praxis des Erdbebenschutzes nutzbar machen – vor allem für antike Konstruktionen. Die Baumeister von damals zu verstehen, könnte auch heutigen Planern neue Erkenntnisse bringen. „Die Konstruktionen waren durchaus erdbebensicher, ihre Erbauer wussten, was sie taten“, ist sich Dorka sicher.
Für das DFG-Projekt dient der Neptun-Tempel im italienischen Paestum als Referenzobjekt. Die als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannte Ruinenstätte liegt in der Provinz Salerno. Mit der Universität Salerno, die die Ruinen wissenschaftlich betreut, arbeiten die Kasseler Forscher seit Jahren zusammen. Die Gruppe um Dorka will am Ende des DFG-Projekts Rechenmodelle liefern, die über statische und konstruktive Eigenschaften des Tempels Auskunft geben, und damit auch über sein Verhalten bei Belastungen – vor allem bei Erdbeben.
Eine Säule fürs Labor
Zunächst ist der Tempel von Archäologen vermessen worden. Auch der Untergrund muss untersucht werden. Informationen über seine Beschaffenheit liefern wichtige Aussagen darüber, wie sich das Gebäude bei Erdbeben verhält. Der Boden unter dem Neptun-Tempel wird bis in eine Tiefe von 20 Metern gescannt. Für die Ergebnisse interessieren sich auch die Archäologen, denn dort werden Reste eines älteren Bauwerks vermutet. Zudem soll mittels Sensoren ermittelt werden, wie äußere Einwirkungen – etwa Wind oder Erschütterungen durch Verkehr – die Tempel-Konstruktion beeinflussen.
Die Daten aus den Messungen an Bauwerk und Untergrund fließen in ein erstes virtuelles Modell des Tempels ein. Dies allein reicht allerdings nicht aus, um realistische Aussagen zum Verhalten eines solchen Bauwerks – etwa bei einem Beben – zu bekommen. Deshalb bauen die Kasseler Forscher – um etwa ein Drittel verkleinert – eine Säule aus dem Tempel nach. Sie wird im Labor des Instituts mit einer von Dorka und seiner Gruppe entwickelten Versuchstechnik online an das virtuelle Modell gekoppelt. Die während einer Erdbebensimulation an der Säule gemessenen Kräfte und Verschiebungen wirken zeitgleich auf das virtuelle Modell und umgekehrt. Säule und Modell reagieren so als eine Einheit auf das im Labor erzeugte Beben. Das Kasseler Konzept ermöglicht es, dass die digitalisierte Versuchssäule jede beliebige Säule im Computer-Modell ersetzen kann. So können verschiedene Varianten durchgespielt werden. Die Modelle für die virtuellen Säulen werden schrittweise so angepasst, dass sie sich wie die reale Versuchssäule verhalten. Am Ende steht ein Tempel-Modell, mit dem man realitätsnah arbeiten kann.
Die Simulation antiker Bauten, wie sie die Kasseler Forscher derzeit entwickeln, soll auch Aussagen darüber ermöglichen, ob es sinnvoll ist, sogenannte Tendon-Systeme für den Erdbebenschutz griechischer Tempel zu nutzen. Bei dieser Technologie werden meterlange dünne Stahlstangen senkrecht in die – von den antiken Steinmetzen während des Herstellungsprozesses eingearbeiteten – Längsbohrungen der Säulentrommeln eingeführt. Sie wirken ähnlich wie die Sehnen in unserem Körper und sorgen dafür, dass sich das Gebäude bei Erdbeben in alle Richtungen kontrolliert bewegt ohne einzustürzen. Erstmalig eingesetzt wurde ein solches System in einer Barockkirche nahe Salerno, erst kürzlich erfolgte ein weiterer Praxistest bei einem antiken Stadttor in der Nähe des türkischen Antalya.
An dem Neptun-Tempel zeigt sich auch, wie schlecht überlegte Eingriffe, die eine wertvolle Ruine schützen sollen, das Gegenteil bewirken können: Bei einer früheren Sanierung, so Dorka, wurden Steinblöcke durchbohrt und Bewehrungsstäbe einbetoniert. Der Stahl rostet nun, dehnt sich dabei aus und sprengt den Stein. Tendon-Systeme hingegen greifen die Bausubstanz nicht an und verändern auch die ursprüngliche Statik nicht, sie sind zudem leicht und ohne Schaden entfernbar. „Tendon-Systeme könnten auf ideale Weise die Anforderungen an Erdbebensicherheit und Denkmalschutz miteinander verbinden“, so Dorka. „Wir müssen sie allerdings noch besser verstehen, um sie richtig einsetzen zu können. Daran arbeiten wir.“
Quelle: Universität Kassel