Neues Teilchen am LHC beobachtet – Hinweise auf Higgs-Teilchen verstärken sich
Zwei internationale Teams von Wissenschaftlern der Teilchenphysik-Experimente ATLAS und CMS haben am 4. Juli 2012 am Europäischen Forschungszentrum für Elementarteilchenphysik CERN in Genf ihre neuesten Ergebnisse zur Suche nach dem Higgs-Teilchen vorgestellt. Beide Experimente, die am LHC, dem größten Teilchenbeschleuniger der Welt stehen, beobachten in ihren Nachweisgeräten ein bisher nicht bekanntes Teilchen, das eine Masse im Bereich von 125 bis 126 Giga-Elektronenvolt hat. Die Forscher kennzeichnen ihre vorgestellten Ergebnisse noch als vorläufig; die Wahrscheinlichkeit, dass es sich nicht um ein neues Teilchen, sondern um eine statistische Fluktuation handelt, liegt bei weniger als eins zu einer Million. Es könnte sich um das seit langem gesuchte Higgs-Teilchen handeln, das erklären kann, wie Elementarteilchen zu ihrer Masse kommen.
„Der LHC und die Detektoren laufen hervorragend und übertreffen all unsere Erwartungen. Mit dieser bedeutenden Beobachtung wird vielleicht die Tür in eine neue Welt der Teilchenphysik aufgestoßen“, sagt Prof. Bernhard Spaan (TU Dortmund), Vorsitzender des deutschen Komitees für Elementarteilchenphysik. „Deutsche Teilchenphysiker haben entscheidende Beiträge zu diesem Erfolg geleistet.“
Im 27 Kilometer langen LHC kreisen Protonen mit höchsten Energien und werden in großen Nachweisgeräten zur Kollision gebracht. Bei den Kollisionen können Teilchen erzeugt werden, wie sie kurz nach dem Urknall existierten. Allerdings zerfallen sie sehr schnell wieder. Sie können in den riesigen Detektoren durch ihre Zerfallsprodukte nachgewiesen werden. Auf der Suche nach dem Higgs-Teilchen haben Wissenschaftler Billiarden solcher Kollisionen untersucht. Nur in wenigen Detektorbildern tauchen dabei Spuren des neuen 125-126-GeV-Teilchens auf.
Prof. Karl Jakobs (Universität Freiburg), Sprecher des BMBF-Forschungsschwerpunkts (FSP) ATLAS: „Obwohl manches dafür spricht, dass es sich bei diesem neuen Teilchen um das lange gesuchte Higgs-Teilchen handelt, sind mehr Daten und weitere Untersuchungen notwendig, um die Eigenschaften des neuen Teilchens präzise zu bestimmen.“
In den vergangenen Jahrzehnten haben die Physiker das sogenannte Standardmodell entwickelt, das die Bausteine der Materie und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken, hervorragend beschreibt. Allerdings hat dieses Modell eine Schwachstelle: Alle Austauschteilchen, die die Kräfte vermitteln, müssten masselos sein. Doch Experimente zeigen eindeutig, dass das nicht für alle gilt. Um diesen Widerspruch aufzulösen, führten Peter Higgs und andere 1964 ein neues Feld ein. Dieses Higgs-Feld durchdringt das ganze Universum und soll den Teilchen ihre Masse verleihen. Sollte es dieses Feld geben, müsste es ein bisher noch nicht entdecktes Teilchen geben, das heute „Higgs-Teilchen“ genannt wird. Nach ihm wird seither intensiv gesucht.
„Was sich hier anbahnt, ist für mich bisher die Entdeckung des Jahrhunderts“, schwärmt auch Prof. Joachim Mnich, Forschungsdirektor des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY. „Am deutlichsten überzeugt mich, dass wir in den zwei unabhängigen Datensätzen aus dem letzten und aus diesem Jahr das gleiche Signal sehen, und das konsistent in beiden Experimenten, ATLAS und CMS.“
Prof. Siegfried Bethke, Direktor am Max-Planck-Institut für Physik in München: „Dass die Beobachtung dieses massiven, bisher unbekannten Teilchens am LHC bereits jetzt mit der für „Entdeckungen“ geforderten Signifikanz berichtet werden kann, ist ein lang ersehnter, großartiger und verdienter Erfolg der beteiligten Institute und Wissenschaftler weltweit!“
Mehr als 700 deutsche Wissenschaftler sind an den LHC-Experimenten ATLAS und CMS beteiligt, davon etwa 400 Nachwuchswissenschaftler. Wesentliche Teile beider Detektoren wurden in Deutschland entwickelt und gebaut. Auch zum Betrieb und der Datennahme und -analyse tragen deutsche Wissenschaftler bei. Am KIT, bei DESY, am MPI und an den Universitäten stehen wichtige Knoten des LHC Computing Grids, dem Speicher- und Rechennetzwerk, das die Analyse der riesigen LHC-Datenmengen erlaubt. Unter deutscher Federführung wurden und werden Detektortechnologien entwickelt, die sich weit über die Teilchenphysik hinaus einsetzten lassen.
Forschergruppen an 16 Universitäten, dem Max-Planck-Institut für Physik in München und den beiden Helmholtz-Forschungszentren DESY und KIT arbeiten gemeinsam an den beiden Experimenten. Sie werden insbesondere durch die BMBF-Forschungsschwerpunkte FSP-101 (ATLAS) und FSP-102 (CMS) im Rahmen der Verbundforschung gefördert. Darüberhinaus arbeiten sie in der Helmholtz-Allianz „Physik an der Teraskala“ zusammen. In der Allianz arbeiten Experimentalphysiker und theoretische Physiker fach- und institutsübergreifend in den Bereichen Datenanalyse, Detektorentwicklung, Computing und Beschleunigertechnologie.
Quelle: Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY