Meereis in der Arktis: Zu grossen Teilen dünne statt dicke Eisschollen
Der Forschungseisbrecher Polarstern lief am 06.10.2011 gegen 7 Uhr in seinen Heimathafen Bremerhaven ein. Zuvor hatte es auf seiner 16-wöchigen Forschungsfahrt mehr als 11 800 Seemeilen zurückgelegt und auf drei Etappen rund 130 Wissenschaftler aus sechs Ländern beherbergt. Der letzte Fahrtabschnitt führte durch den zentralen Arktischen Ozean, wobei die Polarstern auch den Nordpol erreichte.
In der zentralen Arktis hat der Anteil des alten, dicken Meereises deutlich abgenommen. Stattdessen wird die Eisdecke nun zu grossen Teilen aus dünnen, einjährigen Schollen gebildet.
So lautet eines der Ergebnisse, mit denen Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in der Helmholtz-Gemeinschaft von der 26. Arktis-Expedition des Forschungseisbrechers Polarstern zurückgekehrt sind.
Eine der wichtigsten Forschungsfragen lautete: Ist das Meereis in diesem Sommer stärker abgeschmolzen und damit dünner als in den vergangenen Jahren?
Um sie zu beantworten, setzten die Meereisphysiker um Dr. Marcel Nicolaus und Dr. Stefan Hendricks ein Messinstrument namens EM-Bird ein. Diese fast vier Meter lange, torpedoförmige Sonde wird mit dem Hubschrauber über das Eis geflogen und misst die Eisdicke mithilfe eines elektromagnetischen Induktionsverfahrens. Auf diese Weise haben die Meereisphysiker ein Eisdickenprofil der zentralen Arktis über eine Gesamtstrecke von mehr als 2500 geflogene Kilometer erstellt. Ihr Fazit lautet: Dort, wo das Meereis in den vergangenen Jahrzehnten hauptsächlich aus alten, dickeren Eisschollen bestand, findet sich derzeit überwiegend einjähriges Eis mit einer Durchschnittsdicke von 90 Zentimetern. Lediglich im Kanadischen Becken und nahe der nordsibirischen Inselgruppe Sewernaja Semlja stiessen die Meereisphysiker auf nennenswerte Mengen mehrjährigen Eises. Dieses alte Eis ist in der Regel zwischen zwei und fünf Meter dick.
Im Vergleich zu ihren Messungen aus dem Jahr 2007, in dem die Meereis-Ausdehnung auf ein Rekordminimum von 4,3 Millionen Quadratkilometer zurückgegangen war, fanden die Forscher jedoch noch keine Unterschiede. Das Eis hat sich nicht erholt. Es scheint auch in diesem Sommer genauso stark abgeschmolzen zu sein wie im Jahr 2007. Ja, es ist genauso dünn wie im Rekordjahr , sagt Hendricks.
Deutliche Unterschiede konnten die Forscher dort nachweisen, wo das Eis in diesem Sommer fehlte zum Beispiel in der Laptewsee. Auf unserer Expedition im Jahr 2007 stiessen wir im September in der Laptewsee bereits auf dünnes, neugebildetes Eis. Diesmal aber war von Eisbildung weit und breit nichts zu spüren. Die Wassertemperatur in zehn Metern Tiefe betrug drei Grad Celsius so stark hatte die Sonne die eisfreien Wasseroberflächen erwärmt , sagt Prof. Dr. Ursula Schauer, wissenschaftliche Leiterin des Fahrtabschnittes durch die zentrale Arktis. Diese Erwärmung ist aber nur auf die obersten Schichten beschränkt. In der Tiefe des Arktischen Ozeans sorgt kälteres Wasser aus dem Atlantik derzeit für sinkende Wassertemperaturen.
Wichtige Fortschritte gelangen den Meereisphysikern auch bei der Frage, wie viel Sonnenlicht durch das Eis dringt. Dazu setzten sie zum ersten Mal ein per Kabel ferngesteuertes Unterwasserfahrzeug ein. Das sogenannte ROV (Remotely Operated Vehicle) tauchte bis zu 100 Meter tief unter das Eis und erfasste mit einem Spektralradiometer flächenhaft die Verteilung des Sonnenlichtes unter dem Eis. Unsere Messungen haben gezeigt, dass die Lichtmenge unter dem Eis stark vom Eistyp abhängt. Mehrjähriges Eis lässt am wenigsten Licht durch, weil es wenige Schmelztümpel und an der Oberfläche eine dicke Schicht aus verwittertem Eis besitzt , sagt Nicolaus. Einjähriges Eis dagegen sei schon lichtdurchlässiger, besonders in Bereichen mit vielen Schmelztümpeln. Die grßten Lichtmengen haben die Forscher unter neuem Eis gemessen. Aus diesen Ergebnissen können wir schlussfolgern, dass der beobachtete Wandel von einer mehrjährigen zu einer saisonalen arktischen Eisbedeckung zu einer Zunahme des Lichts im Arktischen Ozean führen wird, besonders im Sommer und Herbst , sagt Nicolaus.
Veränderungen der Meereisdicke und -ausdehnung haben auch unmittelbare Konsequenzen für das Ökosystem des Arktischen Ozeans. Der Grund: Die Eisrandzone ist so etwas wie der Garten des Arktischen Ozeans . Durch das Schmelzen des Meereises werden zum einen Algen aus dem Eis ins Meer entlassen. Zum anderen mischt sich das Süsswasser des Eises mit dem Meerwasser. Da ersteres eine geringere Dichte als Meerwasser besitzt, kommt es zu einer stabilen Schichtung des Oberflächenwassers. Die Folge: Die Algen bleiben in der obersten, lichtdurchfluteten Wasserschicht und beginnen zu wachsen. Es kommt zu sogenannten Algenblüten . Diese Algen wiederum bilden den Anfang der arktischen Nahrungsnetze. Wissenschaftlich umstritten ist derzeit jedoch, ob der Arktische Ozean aufgrund des Eisrückganges und der damit verbundenen Lichtzunahme produktiver wird.
Wissenschaftler wie Dr. Ilka Peeken untersuchten deshalb die Biologie der Algen nicht nur im Meereis, sondern auch in den Schmelztümpeln und in der Wassersäule unter dem Eis. Die ersten Ergebnisse zeigen regionale Unterschiede: Im atlantischen Teil der zentralen Arktis waren sowohl im Eis, als auch in den Schmelztümpeln und in der Wassersäule die Algenbiomasse und die Kohlenstoffaufnahme deutlich höher als im pazifischen Teil.
Ähnliches gilt für das klimarelevante Spurengas Methan, das bei der Algenblüte entstehen kann. Messungen der Biogeochemiker um Dr. Ellen Damm zeigten, dass die Bildung und Freisetzung des Treibhausgases davon beeinflusst wird, welche Region des Arktischen Ozeans saisonal eisfrei ist. Zudem gelang es den Forschern erstmals nachzuweisen, wie viel Methan im Eis zu Kohlendioxid oxidiert wird.
Diese und viele andere Momentaufnahmen des Sommers 2011 wollen die Wissenschaftler nun mit ihren Ergebnissen aus dem Jahr 2007 sowie mit den Daten der zwei arktischen Langzeit-Observatorien des Alfred-Wegener-Institutes in der Framstrasse vergleichen. Die sogenannte Verankerungskette und das Tiefsee-Observatorium HAUSGARTEN waren die Ziele der ersten beiden Expeditionsabschnitte. Ihre verschiedenen Messgeräte müssen regelmässig ausgetauscht, die Daten an Bord der Polarstern ausgelesen und die Sensoren neu geeicht werden. Nur so lassen sich Umweltveränderungen detailliert erfassen.
Quelle: Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung