Schweinegrippe und der Weg zur Entscheidungsfindung
In der Medizin gilt die informierte Entscheidungsfindung als ein erstrebenswertes Ideal, für das im Alltag aber meist keine Zeit sei. Was Deutschland derzeit erlebt, zeigt das Gegenteil. Wenn in der Bahn, an der Theke, oder am Arbeitsplatz darüber diskutiert wird, ob man sich nun gegen die Schweinegrippe impfen lassen soll oder nicht, ist das die praktizierte Abwägung zwischen Nutzen und Schaden, wie sie in der Medizin Alltag sein sollte. Das ist die gute Nachricht.
Die schlechte ist, dass die Informationen, die man zu einer informierten Abwägung über die Schweingrippe braucht, derzeit zu oft auf Hörensagen und widersprüchlichen Expertenmeinungen beruhen. „Eine informierte Entscheidung setzt eine nüchterne Analyse des Wissens über Nutzen und Schaden und einen offenen Umgang mit Unsicherheiten und Lücken im Wissen voraus“, sagt Prof. David Klemperer, Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Nötig wären dazu konkrete Angaben zu Häufigkeiten, zeitlichen Trends und konkreten Gefahren für verschiedene Risikogruppen. Dazu müsste eine koordinierte Forschung existieren, die in Deutschland die Ausbreitung des Virus verfolgt, um zum Beispiel festzustellen, wie viele Infektionen so milde verlaufen, dass Erkrankte gar nicht zum Arzt gehen. Solche sorgfältig durchgeführten epidemiologischen Studien sind jetzt nötig, um mehr Informationen zu Nutzen und Risiken von Impfstoffen und Impfungen zu liefern, die dann in Zukunft eine echte Entscheidungsgrundlage sein können. „Wir brauchen diese Untersuchungen dringend“, fordert Klemperer.
Solche Studien können auch klären, ob die Schweinegrippe überhaupt ein grßeres Risiko darstellt als die „normale“ Grippe. „Derzeit überschlagen sich angebliche Experten und Medien mit Meldungen über Todesopfer und verzerren so die Wahrnehmung“, kritisiert Klemperer. Die Erfahrungen in Australien, wo die Welle der Schweinegrippe bereits vorüber ist, zeigen keinen Grund zu besonderer Beunruhigung.
Da konkrete Zahlen fehlen, wie gefährlich die Schweinegrippe wirklich ist, muss sich die Ständige Impfkommission (STIKO) auf eine schmale Datengrundlage verlassen und viele Unsicherheiten in Kauf nehmen. Die STIKO vertritt den Standpunkt, dass jeder Bürger die Möglichkeit zu einer Impfung haben sollte. Eine ausdrückliche Empfehlung spricht sie aber nur für die Beschäftigten im Gesundheitswesen mit Patientenkontakt und für Personen mit erhöhtem Risiko für einen schweren Verlauf aus.
Auch für diese Gruppen fehlen medizinische Fakten, welchen Nutzen die Impfung haben wird. In dieser Unsicherheit können andere Argumente ausschlaggebend werden. Eines dieser Argumente ist die doppelte Fürsorgepflicht, die Beschäftige im Gesundheitsbereich haben. Zum einen können sie als Kontaktpersonen Überträger sein. Zum anderen sollten Ärzte und Pflegepersonal gerade dann gesund und auf dem Posten sein, wenn andere krank sind. Das DNEbM unterstützt daher die Empfehlung, die Impfung zuerst bei medizinischem Personal mit Kontakt zu Patienten einzusetzen. Wegen der besonderen Verantwortung hat diese Gruppe aber auch ein besonderes Recht darauf, dass Nutzen und Schaden der Impfung evaluiert werden.
Derzeit ändern sich die Erkenntnisse zum Thema Impfen gegen die Neue Grippe sehr schnell.
Quelle: Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V.