Neue Influenza A/H1N1 – Wie gefährlich ist das Virus?
Neue Grippe – Wie gefährlich ist das Virus?
Stellungnahme des Präsidiums der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina / Nationale Akademie der Wissenschaften
Der Ausbruch in Mexiko
Die Influenza zeichnet sich durch periodische Ausbrüche aus, die durch die hohe genetische Wandelbarkeit ihrer Erreger bedingt sind. Insbesondere in ihrer pandemischen Form gehört die Influenza zu den Infektionskrankheiten, bei denen das Virus plötzlich, sozusagen aus dem Nichts heraus, auftaucht und deswegen als besonders unberechenbar angesehen werden muss. Dabei werden räumlich begrenzte Ereignisse, so genannte Epidemien und Infektionen, die praktisch die gesamte Welt umfassen, und die als Pandemien bezeichnet werden, unterschieden.
Mit dem Erscheinen eines neuen Influenza-A-Virus vom Subtyp H1N1, das sich seit März dieses Jahres von Mexiko ausgehend in der menschlichen Bevölkerung ausbreitet, nimmt die Pandemiedrohung jetzt konkretere Gestalt an. Obwohl der Schwerpunkt des Ausbruchs bislang noch in Mexiko, den USA und Ländern der südlichen Halbkugel liegt, hat sich die Krankheit innerhalb ganz weniger Wochen nach Europa, Asien und Australien ausgebreitet. In der Mehrzahl der Fälle in Europa handelt es sich um Personen, die sich als Reisende in Nordamerika infiziert haben. Bei ihnen, sowie bei den von ihnen ausgehenden Kontaktinfektionen, war der Krankheitsverlauf in der Regel wie bei einer saisonalen Grippe relativ mild. Todesopfer wurden hauptsächlich aus Mexiko und den USA, neuerdings auch aus Grossbritannien, gemeldet. Insgesamt ist die vorhandene, weltweite Ausbreitung sehr beunruhigend.
Woher stammt das Virus?
Die Influenza des Menschen hat einen zoonotischen Hintergrund. Influenza-A-Viren kommen bei Vögeln und Säugern in grosser Mannigfaltigkeit vor, wobei man heute davon ausgeht, dass die Influenzaviren der Wasservögel das genetische Reservoir für alle anderen Erregervarianten bilden. Phylogenetische Studien haben gezeigt, dass es gelegentlich zum Genaustausch zwischen Viren verschiedener Wirtsspezies kommen kann. Eine besondere Rolle spielt dabei das Schwein, das einerseits Träger genuiner Schweineinfluenzaviren ist, darüber hinaus aber auch relativ leicht von menschlichen und von Vögeln stammenden (aviären) Viren infiziert werden kann. Es hat somit die Funktion eines „Mischgefässes“, in dem menschliche Viren mit pandemischem Potential entstehen können. Die genetische Analyse des neuen H1N1-Virus hat gezeigt, dass es sich hierbei in der Tat um das Produkt eines derartigen Genaustauschs im Schwein handeln könnte. Einige Gene dieses Virus weisen auf menschliche und aviäre Vorläuferviren hin, der grßere Teil scheint jedoch von zwei verschiedenen Schweineinfluenzaviren zu stammen. Es handelt sich somit vermutlich um ein Virus, das vom Schwein auf den Menschen übertragen worden ist und deswegen auch mit einer gewissen Berechtigung immer noch als Schweineinfluenzavirus bezeichnet wird.
Entwickelt sich der Ausbruch zur Pandemie?
Am 11. Juni hat die Weltgesundheitsorganisation die Pandemiestufe 6 ausgerufen. Dies bedeutet, dass in zwei WHO-Regionen eine fortgesetzte Mensch-zu-Mensch-Übertragung beobachtet wird. Als Ursache für eine Influenzapandemie gilt der Auftritt eines neuen Virussubtyps, der sich schnell weltweit ausbreitet und dessen stark veränderte Oberflächenantigene nicht mehr mit Antikörpern gegen früher zirkulierende Viren kreuzreagieren (Antigensprung). Während sich die weltweite Ausbreitung bereits jetzt deutlich abzeichnet, – deshalb die Pandemiestufe 6 – scheint die zweite Voraussetzung nicht erfüllt zu sein, da das neue Virus wie saisonale Erreger der vergangenen Jahre zum Subtyp H1N1 gehört. Wir wissen jedoch, dass es 1946-47 ohne Wechsel des Virussubtyps zu einem Influenzaausbruch kam, der epidemiologisch nicht von einer Pandemie zu unterscheiden war. Eine pandemieähnliche Entwicklung des aktuellen Ausbruchs ist also durchaus vorstellbar, sollte sich – wie man auf Grund der bisherigen Erkenntnisse vermuten kann – der neue Erreger in seiner Antigenität von den saisonalen H1N1-Viren deutlich unterscheiden. Interessant ist weiterhin, dass das Schweineinfluenazvirus noch einige genetische Merkmale besitzt, die charakteristisch für seine aviären Vorläuferviren sind. Dies deutet darauf hin, dass der Adaptionsprozess an den Menschen noch im Gang ist und damit das pathogenetische und pandemische Potential des Erregers noch nicht völlig ausgeschöpft ist.
Was ist zu tun?
Die in den nationalen und internationalen Pandemieplänen vorgesehenen Massnahmen zur Überwachung und Eindämmung derartiger Ausbrüche müssen, soweit noch nicht geschehen, in die Tat umgesetzt werden. Dazu gehört zunächst die Charakterisierung der genetischen, pathogenetischen und antigenen Eigenschaften des Erregers, sowie die Überprüfung der Resistenzentwicklung gegen Neuraminidasehemmer. Das Auftreten erster resistenter Varianten ist bereits aus verschiedenen Ländern berichtet worden. Weiterhin muss die epidemiologische Dynamik des Ausbruchs analysiert werden. Dabei interessieren besonders die Fragen: Wie entwickelt sich der Ausbruch im Winter? Breitet sich das Virus in den nächsten Monaten über die südliche Hemisphäre aus? Verdrängt es die saisonalen H3N2 und H1N1 Stämme oder wird es von diesen verdrängt? Erste Daten aus Ländern der südlichen Halbkugel zeigen, dass das neue H1N1-Virus tatsächlich in der Lage zu sein scheint, die saisonalen Stämme, zumindest teilweise, zu verdrängen. Besonders dringlich ist schliesslich die Entwicklung von pandemischen Impfstoffen, die innerhalb der nächsten Monate in grossen Mengen zur Verfügung gestellt werden müssen. Im Vordergrund stehen Totimpfstoffe, die im Wesentlichen nach Verfahren hergestellt werden, die sich bei saisonalen Impfstoffen bewährt haben. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Impfung gegen die saisonale Influenza keinen Schutz gegen das neue H1N1-Virus verleiht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat deshalb kürzlich festgestellt, dass mit der Produktion einer pandemischen Vakzine begonnen werden sollte. Eine Entwicklung könnte darin bestehen, durch Adjuvanzien die benötigte Antigenmenge zu reduzieren und so die Zahl der Impfdosen zu erhöhen. Diese Zahl könnte noch einmal gesteigert werden, wenn anstelle der Totimpfstoffe Lebendimpfstoffe produziert würden. WHO, nationale Gesundheitsbehörden und Impfstoffhersteller stehen hier vor weit reichenden Entscheidungen, die nicht aufgeschoben werden können. Die Ereignisse um das neue H1N1-Virus verdeutlichen, dass die Forschung und Entwicklung kreuzreaktiver Impfstoffe und innovativer, resistenzunempfindlicher Medikamente zur Therapie von Influenzainfektionen intensiv gefördert werden sollte.
Quelle: Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina